Anais Nins Ruhm begründet sich auf ihren erotischen Tagebüchern, die zwischen Lächerlichkeit und verführerischer Potenz schwanken. Als Gegenentwurf zum zeitgenössischen Fastfood-Porno sollte sie wieder gelesen werden.
In einer Nacht im Jahr 1939 hört diese kleine Frau mit den überproportional großen Augen an Deck eines Dampfers der Schiffsband zu. Als in der Distanz erste Wolkenkratzer auftauchen, schreibt sie in ihr Tagebuch: „Von unserem Platz aus sehen wir ganz New York. Licht und Lärm, körnig, scharf, windig und in jeder Hinsicht das Gegenteil von Paris.“ Die 36-jährige Anaïs Nin lässt zusammen mit einer ganzen Schar von Exilanten das von Nationalsozialisten bedrohte Paris hinter sich. Auf einer Schreibmaschine, die ihm Nin geschenkt hat, wird Henry Miller kurze Zeit später dieselbe Szene beschreiben. Am Horizont New York. Sie wird in seinem Hauptwerk Wendekreis des Krebses erscheinen, in dem er auch die gemeinsame Liebesbeziehung verarbeitet. Miller hat sich bereits in Paris in sie verliebt. Dort hatte Anaïs Nin auch eine Affäre mit Millers drogenaffiner Ehefrau June. „Ich brauche keine Drogen, keine künstlichen Erregungen“, schreibt Nin. Ihr reicht die Libido.
Im Internet findet man zahlreiche Tonbandaufnahmen von Nins hypnotischer Stimme, die Teil ihrer enormen Anziehungskraft gewesen sein muss. Sie hat diesen seltsamen Akzent mit scharfem R und lang gezogenen, kehligen Vokalen, der wohl von ihrem Hang zur Selbstinszenierung als auch von ihrer Heimatlosigkeit kommt. Nin war eine Nomadin. Ihre dänisch-französische Mutter ist auf Kuba geboren und war Sängerin, der Vater kubanischer Komponist. Anaïs Nin wächst unter dem beeindruckenden Namen Juana Edelmira Antolina Rosa Nin y Castellanos in einem Pariser Vorort auf. Bald schon zieht die Familie weiter nach Berlin, dann nach Brüssel, Barcelona, Havanna und während des Ersten Weltkriegs zum ersten Mal nach New York. Unstetigkeit wird zum Grundprinzip ihres Lebens. Und wie das manchmal bei Kindern ist, die keinen Halt haben, erschafft sie sich eine eigene Welt, die bald zur Obsession wird. Als der Vater die Familie für eine Geliebte verlässt, beginnt Nin als Zehnjährige, massenhaft Briefe an ihn zu schreiben. Die schickt sie zwar nie ab, entdeckt aber das Schreiben als ihr „Opium“. Als man in der Schule ihren Schreibstil verfeinern will, geht sie trotzig mit sechzehn ab. Im Laufe ihres Lebens wird sie um die 35.000 Seiten Tagebuch und einige Romane hinterlassen; meist poetische Überlegungen zu Verlust und Liebe.
Die Obsession mit ihrem Vater, der sie als Kind einmal unvorsichtigerweise als hässlich bezeichnet hat, weil ihr die Haare ausgefallen sind, wird ihr Lebensmotiv. Bald setzt sie alles daran, schön zu sein und Anerkennung von Männern zu erhalten. Sie geht zahlreiche Affären ein. In ihren Zwanzigern arbeitet Nin in New York als Model und Tänzerin, beginnt sich stark zu schminken und sexy zu kleiden. Später lässt sie sich sogar von einem Schönheitschirurgen operieren. 1924 kehrt sie nach Paris zurück, frisch verheiratet mit dem Bankier Hugo Guiler. Doch sie liebt nicht nur ihren Mann, aus dem sie stetig versucht, einen Künstler zu machen – und das schließlich auch schafft, Guiler dreht später unter dem Pseudonym Ian Hugo einige Experimentalfilme. Sie hat unzählige männliche wie weibliche Geliebte. Für diese lernt sie sinnlichen Tanz, macht selbst ihren Tanzlehrer zum Geliebten. Nach einer missglückten Abtreibung stehen die potenziellen Väter im Krankenhaus Spalier. Trotzdem bleiben Nin und Guiler bis zu ihrem Tod verbunden. Ihren Vater trifft sie nur noch einmal. 1933, im Jahr der Machtergreifung der Nazis, verabreden sie sich in einem Hotel. Nin notiert: „Ich liebe den Mann, ich liebe ihn mit meiner Seele … den Mann, den ich überall auf der ganzen Welt suchte, der meine Kindheit brandmarkte und mich verfolgt hat. Es waren Fragmente von ihm, die ich in anderen Männern liebte – und nun war das Ganze da.“ Ob die beiden miteinander schlafen? Das gehört ins Reich der Legenden.

Nins Ruhm begründet sich mehr auf dem, was man ihr zutraut, als auf belegbaren Tatsachen. Sie ist eine Kunstfigur. So weckt Nin bis heute Begehrlichkeiten.Wie ihr später berühmter Liebhaber Henry Miller verdient sie Ende der Dreißiger in New York einen Dollar pro Seite mit schnell geschriebenen erotischen Geschichten. Nin verachtet billigen Porno und teilt das auch ihrem Auftraggeber mit: „Wir hassen Sie. Das Geschlechtliche verliert alle Macht und Magie, wenn es überdeutlich, mechanisch dargestellt wird. Es wird stumpfsinnig.“ Immer wieder stellt sie klar, dass sie diese Lohnarbeit als Wegbereiter für Frauen in der Männerdomäne der Erotika versteht, nicht als anspruchsvolle Literatur. So mischt sie explizite Schilderungen mit Ironie und schreibt Titel wie The House of Incest und Das Delta der Venus, das erst 1977 posthum veröffentlicht wird. Es soll ihr berühmtestes Buch werden. Sie schreibt darin über Männer, die Männer lieben, Transsexuelle, Lesben, Prostituierte und Gruppensex. In einer zeitgenössischen Kritik heißt es, das Delta sei „das schönste, was eine Frau je an erotischer Literatur geschrieben hat“.
Auch wenn Nins Duktus heute manchmal etwas platt erscheint, gehen diese Texte weit über das hinaus, was in der Literaturgeschichte bereits an eindimensional verfassten Erotikbüchern verbrochen wurde. Ohne naiv zu klingen, nimmt sie selbst an den erotischsten Stellen Abstand zu banaler Körperlichkeit: „Ich werde zeigen, dass Frauen niemals Sex von Gefühl getrennt haben, von Liebe oder vom ganzen Mann“, schreibt sie im Vorwort zum Delta. Ihre Protagonistin Elena realisiert beim Lesen von Lady Chatterley‘s Lover, dass sie nie Leidenschaft erlebt hat: „Es war die in D. H. Lawrences Buch unterdrückte Frau, die auch in ihr sprungbereit lag, genauso offen, vibrierend.“ Gut, dass Erlösung ein paar Seiten später zu finden ist: „Etwas von einem wilden Tier war auch in seinen Händen, mit denen er sich im lockigen Delta ihres Schoßes festgekrallt hatte. Er war jetzt nackt und hatte sich in seiner ganzen Länge auf sie gelegt. Sie fand es herrlich, sein Gewicht zu tragen, herrlich, unter seinem Körper zermalmt zu werden.“
Nin schildert Sex souverän aus weiblicher Sicht, was zu ihrer Zeit revolutionär ist, und gesteht Frauen abwechselnd fordernde und hingebungsvolle Rollen zu. Sie müssen bei ihr nicht nur selbstbestimmt und stark sein, sondern können sich auch bewusst unterwerfen. Darin sieht sie eine Freiheit. Später wird sie in den USA und Frankreich zur Inspiration der Fenimnistinnen der zweiten Welle. Anaïs Nin führt mehrere Leben parallel, ist die fürsorgliche Hausfrau genauso wie die Betrügerin, die im Nachtleben zu Hause ist. Ihre Ausbildung zur Psychoanalytikerin macht Nin beim berühmten Therapeuten Otto Rank sowie beim Begründer der Societé Française de Psychoanalyse, René Allendy, die beide ihre Geliebten werden. Neben ihrer Ehe mit Hugo Guiler in New York hat sie eine zweite in Los Angeles. Dort ist der 17 Jahre jüngere Rupert Pole ihr angetrauter Mann. Angeblich erfahren die Männer erst nach Nins Tod 1977 aus der Zeitung von diesem Doppelleben. „Ich erzähle so viele Lügen“, sagt sie einmal, „dass ich sie aufschreiben und in einer Schachtel aufbewahren muss, um sie aufrecht zu erhalten“.
Wichtiger als die Wahrheit war für Nin immer die Idee der totalen Hingabe. Realitäten schaffte sie sich im Geist der Surrealisten selbst. Vielleicht das sogar die zentrale Botschaft Anaïs Nins: „Man lebt so dahin und man glaubt zu leben. Dann liest man ein Buch oder man macht eine Reise, und man entdeckt, dass man nicht lebt, sondern in einem Winterschlaf versunken ist … Monotonie, Langeweile, Tod“, schreibt sie. „Sie arbeiten in Büros. Sie chauffieren einen Wagen. Und dann trifft sie ein Schock, ein Mensch, ein Lied, und weckt sie auf.“ Dieses Potential haben auch die Geschichten Anaïs Nins, ob sie nun literarische Glanzstücke sind oder nicht. Deswegen sollten sie wieder gelesen werden.
Info: Dieser Text erschien im Fräulein Magazin Nr. 14 . Foto: Anais Nin Trust (exclusive copyright!)
