Arbeit niemals? Jetzt, da es endlich warm ist heißt das: Spazierengehen statt im Büro zu vertrocknen. Doch brauchen Menschen nicht auch sinnvolle Arbeit, um glücklich zu sein? Mit „Das Recht auf Arbeitslosigkeit“ ist ein neues Buch zum Thema erschienen, das darauf eine Antwort findet.
Ein dunkelblonder Mann im Park, 38 Jahre alt, gutaussehend mit seinem Dreitagebart, auffallend hellblauen Augen und schwarzen Stoffhosen, ist seit kurzem Frührentner − und sagt: „Das feiere ich“. Herzlichen Glückwunsch, könnte man antworten. Weil er nun Zeit hat, im Wohnzimmer selbstkomponierte Musik aufzunehmen, Brieffreundschaften nach Los Angeles zu pflegen und unter der Woche nach Berlin zu fahren, um durch den Park zu spazieren. Wie er das geschafft hat? Es war anstrengend, erzählt er, nicht gerade ehrenhaft, aber hat ihn frei vom Büro gemacht. Darf man sich für jemanden freuen, der auf Kosten anderer lebt?
In Albert Camus Roman „Der glückliche Tod“ träumt sich der junge Mersault vom klaustrophobischen Schreibtischjob in die Sonne vor dem Fenster und ermordet einen reichen Freund, um nicht mehr arbeiten zu müssen. Kein Vergleich, aber aus der Geschichte kann man den Wunsch nach Freiheit von Lohnarbeit lesen. Und dann gibt es noch die, die zwar niemanden um-, aber auch keine Arbeitsleistung er-bringen. Ich denke an ein kürzlich besuchtes Polospiel und die Frauen der millionenschweren Spieler, die dem gängigen Karriere-Feminismus schön ins Gesicht lachen, während sie ihren Männern die Polo-Schläger reichen. Auch sie müssen nie wieder über die Schwelle eines Büros treten und lösen in gewissen Kreisen mit arbeitsmoralischen Ansichten oft Schnappreflexe aus – wie übrigens auch Privatiers, die Könige der Zeit, die aus lauter schlechtem Gewissen Pseudotätigkeiten in Vorständen annehmen. Gibt es ein Recht darauf, seine 70 Jahre so zu nutzen, wie man will? Gibt es ein moralisches Recht auf Nicht-Arbeiten?
Von Freiheit und Faulheit
Diesen Fragen widmet Literaturwissenschaftler Rainer Barbey seinen neusten Band „Recht auf Arbeitslosigkeit“: Man liest da 34 historische Schriften, wie etwa zum Recht auf Müßiggang von Nietzsche oder den weitgehend unbekannten Text „Das Recht auf Faulheit“ vom Logiker Bertrand Russel. Das Buch ist eine Antwort auf die Burn-Out-Debatte, die mittlerweile selbst ganz schön ausgebrannt wirkt. Ihr Thema wurde überstrapaziert, ohne es im Kern zu berühren. Der Kern, das ist unser Verhältnis zur Arbeit, das sich von der antiken Sklavenkultur über Luthers Definition als „Los des Menschen“ bis zur technisierten Gegenwart radikal verändert hat und hier wieder neu überdacht werden muss.
Das muss sie, weil man über die Hälfte der wachen Zeit mit Arbeiten verbringt. Und, weil nicht nur die Japaner, die mit „Karoshi“ ein eigenes Wort für „Tod durch Überarbeiten“ haben, sondern auch die Deutschen mit der Muße die Basis des Dichter- und Denkertums verlieren. Man muss nur an Salons denken, die kreativen Muße-Zentren, die zwischen Lohnarbeit und Haushalt zu urbanen Reanimations-Versuchen verkümmert sind, zu schlichten Vortragsreihen ohne zeitaufwändige Planung und universal-gebildete Gastgeber.
Zum Verhältnis zwischen Zeit und Kultur führt Rainer Barbey „Arbeit und Langeweile“ von Nietzsche an. Der Tenor: Griechische Philosophie, ein Fundament abendländischer Weltanschauung, hätte es kaum gegeben, wenn die Denker ihre Zeit auf dem Feld verbracht hätten; alle Künste verlangen Vertiefung, zu der niemand nach zehn Stunden Arbeit in der Lage ist. Apparate sollten im Idealfall statt Sklaven solche „unwürdige“ Arbeit erledigen, doch nach der Einführung von Maschinen identifizierte man sich mit dem Beruf und begann selbst den erotischen Bar-Kontakt mit einem „Und, was machen Sie beruflich“. Wenn es aber an sich schon als Tugend gilt, zu arbeiten, gibt es höchstens noch wirtschaftliche Fortschritte, keine geistigen.
Geld macht frei von Geld
Um sich nicht zurück Richtung mentaler Steinzeit zu entwickeln, braucht man Zeit. Die können sich wie immer Leute mit Geld leisten, denn Geld macht frei vom Geld, oder zumindest von Lohnarbeit. Wie in Camus‘ „Der glückliche Tod“ einen Millionär zu erschießen und auszurauben, um sich bis ans Lebensende mit zehn Geliebten vor seiner Pinienwald-Villa zu sonnen, ist eine Option. Tugendhafter ist wohl das Prinzip „weniger Arbeit für alle“. Eine alte Utopie. Die Idee bestand lange, bevor der dm-Markt-Gründer Werner Götz errechnet hat, dass statt der Arbeitsagentur auch ein kleines Einkommen für alle finanziert werden könnte: Schon im 16. Jahrhundert überarbeiteten sich die einen, während die anderen arbeitslos waren. Und so schrieb der heilige Thomas Morus vom „Unterhalt für alle Bürger“ und halbierter Arbeitszeit in einer idealen Gesellschaft. 400 Jahre später forderte Karl Marx antipodischer Schwiegersohn Paul Lafargue alle Arbeiter auf, nur drei Stunden am Tag zu arbeiten. „O Faulheit, Mutter der Künste und der Tugenden“, schrieb er, „sei Balsam für die Schmerzen der Menschheit“. Und selbst vom rationalen Philosophen Bertrand Russel ist zu lesen, dass vier Stunden Arbeit einen einfachen Unterhalt rechtfertigen und etwa einem Schriftsteller genug Zeit und Geld brächten, „damit er keine Reißer schreiben muss“.
Wer mehr Geld will, arbeitet mehr und reizlose Jobs – singend und pfeifend Toiletten zu putzen wäre schon seltsam − müssten reizvoll bezahlt werden. Oder ersetzt durch Maschinen wie Toilettenreiniger und automatische Supermarktkassen, statt Arbeitsplätze zu subventionieren und zu beschaffen. Statt Beschäftigungstherapien wie Taschentücher vom Boden zu picken, sollten die Leute ihre Zeit nutzen lernen. „Eine fortgeschrittenere Erziehung und Bildung als die heute übliche sollte Interessen und Neigungen wecken, die dem Menschen eine gescheite Verwendung seiner Mußezeit ermöglichen“, schrieb Russel.
Ausgerechnet in dieser neu gewonnenen Freizeit würden viele auch ohne Zwang arbeiten: Welcher Maler, Arzt oder Journalist will schon lieber zu Hause sitzen? Die meisten Kinder werden nach ihrem Berufswunsch gefragt weiter „Feuerwehrmann“ antworten, nicht „Arbeitsloser“. Und Arbeitslose würden sicher etwas leisten, wenn ihnen nicht der Großteil des Geldes wieder abgezogen würde. Tätigkeit ist für die Zivilisation ebenso relevant, wie Muße, weil sie Struktur gibt und so Zukunft formt, schreibt Herausgeber Rainer Barbey im Nachwort seines Bandes. Nur eben in vernünftigen Maßen. Der blonde Frührentner etwa hat im Park Fotos geschossen und will sie gleich am Computer künstlerisch bearbeiten, eines seiner neuen Hobbys. Außerdem hat er sich Schallplatten bestellt, holt sie später im Laden ab, hört sie sich von vorne bis hinten an und stellt einen Musikabend zusammen. Dann trifft er sich mit Freunden zum Steak-Essen, denn es ist Anfang des Monats, in dem er 300 Euro zur Verfügung hat. „Das ist mein Rhythmus“, sagt er. „Kein aufgesetzter, der die Tage gliedert. Mir redet niemand in mein Leben.“
Ob ein Gesellschaftssystem, das freier mit Arbeit und Zeit umgeht, konkurrenz- und damit überlebensfähig ist, wird im Sammelband nicht geklärt. Aber die provokante Frage nach einem Recht auf Arbeitslosigkeit bringt zur rechten Zeit eine essentielle Überlegung auf den Tisch: Fortschritt muss auch ein geistiger sein. Ein Aufatmen inmitten der andauernden Wirtschaftsdebatten. Müßiggang ist nicht aller Laster Anfang. Muße macht aus Eindrücken Erfahrung. Und das ist die Grundlage für Zivilisation.
Rainer Barbey: Recht auf Arbeitslosigkeit? Ein Lesebuch über Leistung, Faulheit und die Zukunft der Arbeit. Klartext Verlag, 14,95 Euro.