Nur als Möbel kann man die Stühle und Tische des Turiner Kollektivs Nucleo kaum bezeichnen. Sie sind futuristische Fossilien von einem anderen Planeten.
Piergiorgio Robino ist schon wieder halb auf dem Weg nach London. Seit Nucleo bekannt wurde, ist er viel unterwegs; vor allem in den Großstädten, wo man Geld hat und Sinn fürs Zeitgenössische. Im Piemont dagegen war man skeptisch was seine Designobjekte angeht, denn man bevorzugt dort das Bodenständige. Und was die Kunst angeht? Ettore Sottass mit seinem knallbunten Memphis-Stil kennt man vielleicht noch aus den 80ern. Die Anti-Design-Bewegung richtete sich gegen teure, elegante Luxusmöbel mit Anspruch auf Ewigkeit – und damit genau gegen das, was Piergiorgio mit seinem Vierergespann entwirft: hochpreisige Objekte, die die Zeit überdauern sollen und als Statussymbole gekauft werden. Um die 75.000 Euro zahlen Chanel oder Fendi, um sich eine Konsole in die Filiale zu stellen. Das sind die Kunden von Nucleo: Designgeschäfte, die die Stücke als Kunstexponate präsentieren, oder Innenarchitekten, die Villen damit ausstatten. „Sie kosten etwa so viel, wie ein Quadratmeter Wohnfläche in den Städten, wo wir am meisten verkaufen. So gesehen sind sie gar nicht so teuer für ihre Käufer“, sagt Robino und überlegt kurz. „In unserer Gegend ist das was anderes. Mein Vater kann zum Beispiel überhaupt nichts damit anfangen.“ Nur eine Lampe hat er ihm einmal in Canelli aufhängen dürfen, einem 10.000-Seelen-Ort mit steinernen Bauernhäusern, wo er Wein anbaut und ein traditionelles Leben führt. Da passen die Kunstharz-Tische nicht ganz in das Bild einer gelungenen Inneneinrichtung. Sie wirken gleichzeitig riesenhaft massiv und sehen durch ihr luzides Material aus, als würden sie über der Erde schweben wie Altare von anderen Planeten, eben gar nicht traditionell. Dennoch hat dieser Ort Piergiorgio, den Mann mit dem grauem Vollbart, den kaum jemand beim Nachnamen nennt, dazu gebracht, Möbel zu entwerfen: „Mein Vater hat nicht nur Wein, sondern so ziemlich alles selbst gemacht und ich bin damit aufgewachsen, zu gestalten“, sagt er. „Ich habe mein eigenes Spielzeug gebaut und ein einfaches Stück Holz wurde zur Figur.“
Das Selbermachen und Experimentieren hat er beibehalten, nur der Maßstab hat sich verändert. Piergiorgio Robino studierte Design und gründete Nucleo 1997 als Kollektiv, das in unterschiedlicher Besetzung vor allem Auftragsarbeiten entwarf. Am bekanntesten ist aus dieser Zeit der Grasstuhl „Terra“, der sich wie ein bequemer Hügel aus grünen Wiesen erhob und unter anderem im New Yorker MoMA ausgestellt wurde. Etwa zehn Jahre später begannen sie mit dem ersten komplett unabhängigen Projekt: „Ich habe einen guten Freund in seiner Werkstatt besucht, die große Bootsteile aus Kunstharz herstellte“, erinnert sich der Designer. Seitdem verwendet er vor allem Kunstharze für seine Möbel, denn die durchscheinende Ästhetik erinnert ihn an Bernstein – als Junge sammelte er unzählige Stücke mit eingeschlossenen Insekten und Luftblasen. In seinem Turiner Studio, einem kirchenhaft hohen Backsteinbau voller geschäftiger Werkstätten, wurde daraus die Kollektion „Primitive“ geboren. Sie bestand aus kubistischen Objekten, die zwar noch an Möbel erinnerten, aber zugleich an die „White Cubes“ von Sol le Witt oder die zeitgenössischen Plastiken eines Carl Andre: Tetris-artige Gebilde aus Würfeln und Rechtecken. Tatsächlich ist die Analogie zum Gameboyspiel nicht weit hergeholt, denn Piergiorgio bezeichnet sich als „Handwerker des Digitalen Zeitalters“ und das quadratische Pixel ist die Formsprache seiner Wahl. Die Kuben werden nach einem künstlerischen Masterplan zusammengesetzt, den man sich am besten vom Designer selbst erläutern lässt, denn er betreibt eine Art Hirn-Lego aus Bauen und Denken: „Wenn ich sage, es ist Design, widersprechen die Leute, weil es nicht für den Alltag gestaltet wurde“, sagt er. „In der Kunstwelt dagegen sind die Objekte nicht für einen Zweck bestimmt.“ Diese Mischform aus Kunst und Design machte Nucleo besonders interessant für Gabrielle Ammann, die das Kollektiv in ihrer Kölner Galerie vertritt: „Es gab schon im italienischen Design der 80er Jahre Gruppen wie ,Alchimia‘, die in der Tradition des Radical Design dem Funktionalismus abschworen und künstlerische Komponenten in den Vordergrund stellten“, erklärt sie. „Mittlerweile hat sich ein Sammlerkreis für diesen Markt entwickelt und das ist sehr spannend.“ Piergiorgio Robino nennt seine Arbeit „Functional Art“; keine neue Richtung, obwohl er sie als solche beschreibt. Ein Scherz? Man hört es nicht so richtig aus seiner Stimme heraus. „Functional Art“, also Kunstgewerbe, ist eigentlich kein Begriff, den Künstler gerne anfassen, zu aufgeladen ist er mit Assoziationen von Dekokunst und dem Gespenst der Reproduzierbarkeit. Robino hat davor keine Angst. Er schreibt jetzt sogar ein Buch über „seinen“ Design-Ansatz.
Auf jeden Fall kann Nucleo der Kunstwelt zugeordnet werden: Alle Stücke sind Unikate, werden in Museen ausgestellt, teils in Performances integriert und haben einen theoretischen Überbau: Ob „Primitive“, „Stones“, „Metals“ oder „Cages“ – die Titel der Kollektionen beziehen sich auf Epochen der Frühgeschichte. „Unsere Stücke erzählen von der Menschheit, beginnend bei ihrem Anfang“, sagt Piergiorgio Robino. „Ein Archäologe hat mir etwa über Höhlenmalereien erzählt. Steinzeitmenschen fertigten Skizzen an, bevor sie auf die Wände malten, und entwarfen größere Arbeiten auf Holz.“ Inspiriert davon entwickelte er die Serie „Petroglyph“ und schrieb Sätze auf altes Holz, die nur Nucleo und die Käufer der Stücke kennen. Davon wurden Abdrücke auf drei mal drei Meter große Leinwände gemacht, die zugleich eigene Kunstwerke und Echtheitszertifikate zu einem Möbelstück darstellen, das aus dem bedruckten Holz verarbeitet wurde. Die Serien „Wood-“ und „Stone Fossil“ bestehen wiederum aus in Kunstharz eingeschlossenen Holzmöbeln und Steinen; zeitgenössische „Versteinerungen“, die von längst vergangenen Zeiten erzählen. Diese luziden Blöcke vereinen Schönheit und Tragik des Vergänglichen. Wie die meisten Objekte von Nucleo entfalten sie eine starke ästhetische Wirkung, wenn man sie vor sich sieht. Diese funktioniert auch, oder vielleicht sogar besser, ohne den ganzen Kontext, der teils ein bisschen weit weg geholt wirkt. Piergiorgio Robino will dagegen mehr Kontext. Ihm ist es offensichtlich wichtig, zur Kunstwelt zu gehören. Darum träumt er gerade von einer Ausstellung, die seine Konzeption sichtbar macht, denn er betrachtet sie als gleichwertig neben dem Tisch oder Stuhl. Konkret will er aber noch nicht über seine Pläne reden. Er ist abergläubisch und befürchtet, dass noch etwas schief gehen könnte: „Ich kann einfach nicht“, sagt er, wieder halb im Scherz. Außerdem muss er los. Er will noch mit seinem Vater zu Abend essen, in seinem Heimatort in den Weinbergen. Das ist ihm wichtig, bevor er nach London fliegt, da ist er ganz bodenständig.
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